Catarina Katzer - Cyberpsychologie
Wer kennt es nicht, dieses Phänomen ? Mal eben googeln. Veranstaltungstermine, Kinoprogramm, Ausflugstipps nachschauen. Im Online-Banking nachsehen, wie lange das Geld bis zum Monatsende reicht. Die kommenden Paarungen des nächsten Spieltags der Fussball-Bundesliga sichten. Auf der Homepage der Tageszeitung die Schlagzeilen, Neuigkeiten, das Lokalgeschehen studieren. Nach youtube wechseln. Auf Musik-Seiten, die rockig sein sollen. Dem Musikgenuss des kompletten Albums von „Deep Purple in Rock“ kann man über eine Stunde und 18 Minuten lauschen. Das kulturelle Interesse steigt. Das „Mount Rush Memorial“ in Wikipedia recherchieren, in dessen Originalfelsen die früheren Präsidenten der USA, George Washington, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt und Abraham Lincoln eingemeißelt sind , welches das Cover von „Deep Purple in Rock“ mit den Musikern von Deep Purple kopiert hat. Dann e-Mails checken: es sind viel zu viel, vor allem zu viel Werbung, Spam, Newsletter. Das Löschen kostet Zeit, bis die wirklich wichtigen e-Mails heraus gefiltert sind. Anschließend nach Facebook: ein paar Eingangsnachrichten von Freunden mit hübschen Fotos liken. Aber nicht nur liken oder teilen: ein paar Inhalte sind nicht uninteressant, daher quer vergleichen, recherchieren, nachlesen, kommentieren. Wenn es gelingt, das Netz zu verlassen, stellt man ruckzuck fest, dass mehrere Stunden vergangen sind, ohne dass man etwas wirklich werthaltiges geschafft hat.
Catarina Katzer befasst sich in ihrem Buch „Cyberpsychologie“ genau mit diesem Phänomen, wie sehr das Netz unseren Alltag durchdrungen hat und wie sich unser Nutzerverhalten auf die Psychologie unseres eigenen Ich auswirkt. Milliardenschwere Konzerne wie Google stecken dahinter, die mit dem Netz ihr Geld verdienen. Das Netz ist als neues Medium dazugekommen, welches mit Nachrichten, Bildern, Filmen, Informationen und zwischenmenschlicher Kommunikation unsere Aufmerksamkeit beansprucht. „Aufmerksamkeitsökonomie“, unter diesem Oberbegriff fasst Katzer die psychologische und ökonomische Dimension zusammen.
Dr. Catarina Katzer, die in Volkswirtschaftslehre und Sozialpsychologie promoviert hat, zählt auf dem Gebiet der Cyberpsychologie und Medienethik zu den führenden Forschern und Experten. In Kommissionen des Europarates, des Deutschen Bundestages und für weitere Regierungsinstitutionen ist sie im In- und Ausland tätig.
Das Internet ist zu einem neuen Koordinatensystem unseres Denkens und Handels geworden. Mit all ihrem Detailwissen beschreibt Catarina Katzer psychologisch fundiert, welchen Einfluss das Netz auf unsere Persönlichkeit hat, auf unser Handeln und Tun. Dabei erhebt sie gerne ihren mahnenden Zeigefinger, bis zu den Abgründen des Netzes, ohne dass sie andererseits die Chancen des Netzes vergisst.
Das Netz verändert unsere Denkstrukturen und greift in unsere Persönlichkeit ein. Ob Internet, Google, Youtube, Wikipedia, E-Mail-Accounts, What’s app, SMS, Facebook, Twitter, Instagram, Xing, Blogs, EBay oder Tinder: um den Alltag handhaben zu können, werden die Zeitanteile stetig größer, dass wir auf das Netz angewiesen sind. Das Netz kennt keine Grenzen, 24 Stunden, rund um die Uhr, Tag für Tag, Monat für Monat, im Jahresverlauf. Dabei wechseln wir von unserer analogen Denkwelten in einen Hochgeschwindigkeitsmodus des Netzes, worauf sich unser Gehirn einstellen muss. Schier endlose Text-, Bilderfluten und Filme stürzen auf uns ein. Wenn wir selbst keine Stoppschilder einbauen, dann rauschen all diese Text-, Bilderfluten und Filme einfach nur an uns vorbei, so dass wir nur einen kleinen Teil wahrnehmen, während unser Gehirn ein tiefergründiges und komplexes Denken verlernt. Allzu oft geraten wir in einen Teufelskreis der Endlosinformationssuche hinein, in dem wir uns nur verzetteln.
Oder Laptops und Smartphones werden zu unserem Dauerbegleiter zu jeder Uhrzeit, um die explodierende Mengen von Nachrichten in den Griff zu bekommen. Unser Smartphone liegt beim Schlafen neben unserem Bett, wir lesen Whatsapp-Nachrichten bei Baden, wir checken unsere e-Mails beim Frühstück.
Nur rund 2% der Bevölkerung sind zu wirklichem Multitasking fähig, das haben Untersuchungen gezeigt. Gemeinhin glaubt man, unterschiedliche Dinge gleichzeitig tun zu können, doch dem ist nicht so, denn es kommt zu Wahrnehmungsfehlern und Verzerrungen im Bewusstsein – wenn man etwa gleichzeitig unterschiedliche Webseiten betrachtet.
Solche Verzerrungen der Selbstwahrnehmung können ohnehin eine Abspaltung der realen Person mit den virtuellen Handlungen im Netz bewirken. Da die Handlungsräume unterschiedlich sind, entkoppeln wir unseren Körper von unserer Persönlichkeit. Es gibt keine Mimik und Gestik, keine Möglichkeit nonverbaler Kommunikation im Netz. Gesichtsausdruck, Augenbewegungen, Blickkontakt fehlen. Persönlichkeit und Identität des anderen im Netz sind unsichtbar, so dass es zu Fehlurteilen und Fehlinterpretationen kommt.
Über die Trennung von Körper und Persönlichkeit im Netz leitet Catarina Katzer über zu Cybermobbing, Cyberstalking, Shitstorms und Gewalt im Netz. Da es keine virtuelle Verantwortung im Netz gibt, fallen gruppendynamische Prozesse in der Anonymität des Netzes hemmungsloser und exzessiver, empathieloser und grausamer aus, wenn mehrere sich verbünden. Verantwortung muss niemand übernehmen, da es diese de facto nicht gibt. Bei Shitstorms können etwa diese Effekte beobachtet werden. Die Gruppe, die Shitstorm-Gemeinschaft, dient als psychologischer Selbst-Schutz. Schuldbewusstsein und ein schlechtes Gewissen existieren nicht – es ist ja die anonyme Gruppe im Netz, die die richtigen Schritte umsetzt. Die Sprache ändert sich im Netz, wenn die Umgangstöne pöbelhaft, fäkallastig oder sexistisch werden. Ethik oder Verantwortung verflüchtigen sich in der virtuellen, von der Persönlichkeit abgekoppelten Unendlichkeit des Netzes.
Die milliardenschweren Konzerne wie Google, die die Netzplattformen bereitstellen, ziehen sich allzu gerne in eine Zuschauerrolle zurück. Plattformkapitalismus, so nennt Catarina Katzer dieses Phänomen. Die Betreiber stellen lediglich den Raum für die Veröffentlichung zur Verfügung, sie machen ordentlich Geld damit, aber für die Inhalte sind andere verantwortlich. Diese Vorgehensweise wird allerdings auch durch die europäische e-Commerce-Richtlinie unterstützt, die zudem lückenhaft ist. Pro Minute würden weltweit 100 Stunden Videomaterial hoch geladen, welches Youtube unmöglich kontrollieren könne. Weltweites Aufsehen erregte ein italienisches Youtube-Video, das die Misshandlung eines Jungen mit Down-Syndrom durch mehrere Jugendlichen zeigte. Die Staatsanwaltschaft in Italien musste sich letztlich einschalten, da es die Privatsphäre des Behinderten verletzt sah, damit Youtube dieses Video entfernte.
In ihren Zukunftsvisionen, wie sehr die Bedeutung des Netzes noch zunehmen kann, geht Catarina Katzer sehr weit. Sie bezeichnet das Netz als einen „heiligen Gral“ für Entwickler und für die Netzökonomie. Der US-amerikanische Zukunftsforscher Raymond Kurzweil wünscht sich, dass in ferner Zukunft eine globale Computerwolke unser Gehirne aufsaugen soll, damit wir für immer in der virtuellen Realität überleben können. Andere Zukunftsforscher kommen zu demselben Ergebnis. Eine totale kybernetische Kultur setzen sie mit einer neuen Religion gleich.