die Scorpions live auf dem KUNST!RASEN in Bonn
Mehrere Wochen hatte ich diesem großartigen Ereignis entgegen gefiebert, und meine hoch gesteckten Erwartungen sollten vollends erfüllt werden. Die Scorpions, dreimal hatte ich sie in den 1980er Jahren in der Kölner Sporthalle live erlebt, ein viertes Mal 2010 in Dortmund. Nun sollten sich zum fünften Male auf dem Kunstrasen in der Bonner Rheinaue meine Wiedersehenswünsche nach fetziger, bodenständiger Rockmusik erfüllen.
Ich hatte noch nie einem Konzert auf dem Bonner Kunstrasen beigewohnt, und schon beim Gang durch die Rheinaue war nicht zu übersehen, was für ein Großereignis seinen Lauf nehmen würde. Den Posttower in Sichtweite, verdichteten sich der Besucherandrang über Wege, Trampelpfade und auf Rasenflächen. Ein totales Verkehrschaos herrschte vor der Zufahrt zur Tiefgarage des Posttowers, die als Parkmöglichkeit genutzt wurde. Verkehrsstau allenthalben, und auf dem Weg zum Konzert konnte ich nicht ein einziges Mal beobachten, dass die Zufahrtsschranke ein Fahrzeug in die Tiefgarage hinein ließ.
Dass Rucksäcke in einem Zelt abzugeben waren, darauf hatte ich mich nicht unbedingt eingestellt, so dass ich mich ohne Portemonnaie, aber mit Digitalkamera und Smartphone auf das Konzertgelände begab. Mit einer Ausnahme hatte ich Live-Konzerte stets nur in Hallen erlebt, und ich stellte fest, dass die Atmosphäre vor einem Open-Air-Konzert auf dem weitläufigen Rasen vor der Bühne etwas besonderes war. Eine Dreiviertelstunde vor Konzertbeginn gab es jede Menge zu beobachten. Die Besuchermassen vereinigten sich zu einer innigen Fangemeinde. Alle hatten eine Gemeinsamkeit, wie man es ansonsten von Hobbys kannte. Obschon ich Reportagen und Filme nur aus Radio und Fernsehen gesehen habe, verbreitete die Atmosphäre ein kleines Stückchen Woodstock, in viel kleinerem Format mit rund 5.000 Konzertbesuchern auf einem Rasen, der nicht ganz so matschig war wie derjenige von Woodstock.
die Bühne einige Tage vorher (oben links), die Bühne kurz vor dem Konzert (oben rechts),
die Bühne während des Konzertes (unten links), Stehen im Matsch (unten rechts)
Die ganze Nacht über bis in die Mittagszeit hatte es geregnet, und der Matsch hatte größere Stellen aufgeweicht und Pfützen hinterlassen. Die Besucher störte das kaum, als sie sich wie bei einem Volksfest um Getränkestände scharten, sich an Imbissen mit Fritten und einer Currywurst verpflegten oder an der Cocktailbar ihre Vorfreude auf dieses große Ereignis mit ihren musikalischen Artgenossen teilten.
Die Schar der Fans war in meinem Alter, um die sechzig, einige noch älter, bis in die siebzig, manche jünger um die fünfzig, während die junge Generation unterdurchschnittlich vertreten war. Viele dokumentierten ihre persönliche Konzertgeschichte auf ihren T-Shirts. Dabei bedauerte ich, dass mir meine eigene persönliche Konzertgeschichte verloren gegangen war, als sich über den Rücken eines mindestens 60-jährigen ein T-Shirt von der Blackout-Tour im Jahr 1982 spannte. Genau dieses Konzert hatte ich damals in der Kölner Sporthalle besucht – ohne jegliche Merchandise-Artikel käuflich zu erwerben, weil mir diese schlichtweg zu teuer war. Nun trauerte ich dem nach, wobei etliche Konzertbesucher Fans artverwandter Musikgruppen in der Kategorie des Hard Rock waren. Sie trugen T-Shirts vergangener Rockkonzerte von Metallica, Guns’n’Roses, Saxon, Motörhead oder Iron Maiden.
Viele Besucher schworen auf Wacken, das stellte ich fest, als ich meinen Stehplatz im Front-of-Stage-Bereich einnahm. Ich hatte mich neben einem Paar in Stellung gebracht, wovon das Alter des Mannes schwierig einzuschätzen war. Betrachtete man sein tief in Falten zerfurchtes Gesicht und seine erstarrten Gesichtszüge neben seiner um einen Kopf kleineren Frau, so mochte er mit seinem schulterlangen dunkelblonden Haar um die siebzig sein. Einen weiten Aktionsradius und reichlich Beweglichkeit konnte man hingegen aus seinem Wacken-T-Shirt ablesen. Vom 1. bis zum 3. August war er in Wacken dabei gewesen, und das Konglomerat des Hard Rock-Musikfestivals hatte sich mit Rockgrößen wie Slayer, Accept, Judas Priest, Megadeath und wie sie alle hießen, auf dem Rücken seines T-Shirts verewigt.
Nachdem die Vorgruppe „The Roses“ mit scharfen Gitarrensoli das Publikum eingeheizt hatte, kam nach einer Pause des Aufbaus der große Moment. Die wartenden Zuhörer umstanden die Bühne, und nicht einmal zehn Meter entfernt, war mein Blickfeld nahezu optimal. Bereiche von Pfützen und Matsch beeinträchtigten niemanden, und selbst Frauen mit hohen Stöckelschuhen standen mitten im Matsch.
The Zoo: banaler Text und geniales Gitarrenriff
Der Vorhang fiel, ein Hubschrauber wirbelte auf einer Multivisionsleinwand durch die Luft, er kurvte in einer Einflugschneise zwischen den Hochhausschluchten einer virtuellen Stadt, wo er das Symbol der Tour „Crazy World“, eine auf einem Hochhaus aufgesteckte roboterähnliche Gestalt mit einer Weltkugel, überflog. Als die fünf Musiker die Bühne betraten, ging sogleich die Post ab. In „Going out with a bang“ schlugen die harten Gitarrenrhythmen ein, die durchdringende Stimme des Sängers Klaus Meine legte sich mächtig ins Zeug, der Drummer Mickey Dee ließ die Fetzen fliegen. Das Eröffnungsstück führte mitten hinein in die unverwechselbaren Stilelemente des Rock, wodurch die Scorpions mit ihrem Powersound zu wahren Meistern in ihrer Kategorie der Rockmusik geworden waren. Die Refrains waren knackig und zum Mitsingen, die Gitarrensoli waren hart und bisweilen exzessiv, die Gitarrenriffs waren eingängig und trieben die Melodie voran. Und sie suchten die Verbindung mit dem Publikum, indem sie auf dem Laufsteg bis ganz dicht an das Publikum herantraten. Blicke vereinigten sich mit den Zuhörern, Gesten bezogen das Publikum ein, zum Mitsingen hielt der Sänger Klaus Meine das Mikrofon ins Publikum.
Mit dem Eröffnungsstück war die Begeisterung wiedergekehrt, die ich bei den vier anderen Konzerten erlebt hatte. In den vergangenen Woche hatte ich in Youtube alles mögliche von den Scorpions rauf und runter gehört, und immer wenn ich den Text kannte, was häufig der Fall war, sang ich mit.
"The Zoo" aus Youtube
Vom Prinzip her gefiel mir alles von den Scorpions, weil ihre Alben so homogen waren, dass man alle Stücke mit ihrem unverwechselbaren Stil vom Anfang bis zum Ende durch hören konnte. Es gab keine schlechten oder langweiligen Stücke, und meine Lieblingsstücke kehrten stets zu den Alben „Love Drive“ und „Animal Magnetism“ zurück, als meine musikalischen Vorlieben Anfang der 1980er Jahre mit den Scorpions groß geworden waren.
Genau diese Hammer-Stücke aus diesen Alben folgten, zuerst „Make it Real“, dann „The Zoo“, dann „Is there Anybody there“, danach „Coast to Coast“. „The Zoo“ ist einer der absolut genialen Scorpions-Stücke, dessen Gitarrenriff nicht mehr aus dem Ohren verschwinden will. Wie in solch einen banalen Text solch ein überwältigender Powersound hinein hauen kann, da schwang bei jedem Ton der ganze Körper mit. Der Tag und die Arbeit sind langweilig, abends trifft man sich mit der Freundin, gemeinsam zieht man durch die Straßen, man tut dies, man tut das, und der Zoo steht als Synonym für die Straße. So bedeutungslos der gesungene Text in „The Zoo“ war, schärfer könnte der Gegensatz nicht sein zu dem stehenden und die Melodie zerschneidenden Gitarrenriff des Sologitarristen Rudolf Schenker. Bei dem Instrumentalstück „Coast to Coast“ erreichte meine Welle der Begeisterung den nächsten Höhepunkt, als sich selbst der Sänger Klaus Meine der Gitarre bediente. Das Stück war so genial, weil sich die Melodie um wenige Akkorde aufbaute, deren Sequenzen sich mehrfach wiederholten, während die Gitarrensoli mit ihrer Vielzahl von Soloeinlagen wahnsinnig facettenreich waren. Zum Ende des Stückes stand die Einheit der vier Gitarristen in einer Reihe vor dem Publikum.
Top of the Bill: die Anfangszeiten in Clubs und Kneipen
Klaus Meine kramte in seinen Erinnerungen herum, als er über Bonn erzählte. Die Anfangszeiten, unvorstellbar heute, als die Scorpions noch in irgend welchen Clubs und Kneipen gespielt hatten, hatten die Musiker Anfang der 1970er Jahre nach Bonn geführt. Manchmal wussten sie nicht, wie sie ihren Sprit bezahlen sollten, und die Fahrt über die Autobahn war ätzend. Von Hannover aus erst über die Autobahn A2. Die Strecke dehnte sich schier endlos über die Einöde Westfalens in die Länge. Am Kamener Kreuz, mitten in NRW, dachten die Scorpions, sie seien bald am Ziel. Doch Bonn war weit, in der anderen Ecke von NRW, so dass sie noch einmal dieselbe Strecke zu bewältigen hatten. Es folgte das Stück „Top of the Bill“, womit sie eines der wenigen Stücke erwischt hatten, das ich nicht kannte. Die Klasse, die Qualität und der Sound stimmte, so dass es sich mit den anderen bekannten Stücken vollkommen auf Augenhöhe bewegte. „Speedy’s coming“, „Steamrock Fever“ und „Pictured Life“ aus ihrer Anfangszeit reihten sich in einem Medley aneinander.
Der Übergang war fließend in Stücke der neueren Zeit, wobei dieser Zeitraum der neueren Zeit sich sehr dehnbar gestaltete. Die Stücke waren weithin bekannt, sie waren Kernbestandteil eines jeden Scorpions-Konzertes, davon stammten mehrere von ihrem Crazy World-Album, auf dem ihr Hit „Winds of Change“ weltweit bekannt wurde. Nach dem Mauerfall 1989 war der Titel „Crazy World“ auch politisch motiviert, der auf einem Zitat des damaligen amerikanischen Präsidenten George W. Bush „you have to realize, we live in a crazy world“ beruhte. Das Symbol der Weltkugel mit der Überschrift „Crazy World“ hatten sie in dieser Tour wieder aufleben lassen.
der Sänger Klaus Meine (oben links), der Bassist Pawel Macidowa und die Solo-Gitarristen Matthias Jabs/Rudolf Schenker (oben rechts), "we built this house on a rock" (unten links), Schlagzeuger Mikkey Dee (unten rechts)
Die zentrale Bedeutung der Zeit nach dem Mauerfall unterstrich das Stück „Wind of Change“, womit sie eine weltweite Bekanntheit erlangt hatten. Stets war es den Scorpions verwehrt worden, in der damaligen DDR auftreten zu dürfen. 1988 gaben sie dann zehn Konzerte in St. Petersburg in der damaligen UdSSR, im August 1989 gaben sie vor 300.000 begeisterten Zuschauern in Moskau ein Konzert. Mit der Aufbruchstimmung hinter dem eisernen Vorhang entstand in Moskau die Inspiration zu „Wind of Change“. Wie der Lauf der Weltgeschichte zeigen sollte, wurde die Inspiration drei Monate später zur deutschen Wahrheit. Nach dem Mauerfall komponierte Klaus Meine das Stück, das 1991 auf ihrer LP „Crazy World“ erschien.
In allen europäischen Hitparaden rauf- und runtergespielt, ist „Winds of Change“ ein zwingender Bestandteil eines jeden Scorpions-Konzerts. Da so oft gehört und da die Tonart ziemlich weich geraten war, war „Winds of Change“ nie mein Ding. Dennoch war berauschend, wie intensiv das Publikum mitsang. Bei langen Passagen schwieg Klaus Meine, er übergab den Gesang mit seinem langstieligen Mikrofon an das Publikum. Dieses kannte den Text in- und auswendig und sang in einfühlsamer Lautstärke mit. Obschon „Winds of Change“ nicht zu meinen Lieblingsstücken gehörte, war die Verschmelzung des Publikums mit der Band über den Gesang ein bewegendes Erlebnis.
„We build this house on a rock” von dem 2015er-Album “Return forever” gefiel mir hingegen als langsames Stück, weil es auch ein Stück Lebensphilosophie verkörperte. Die Scorpions hatten ihren unverwechselbaren Stil des Rock künstlerisch umgesetzt, den sie konsequent weiter verfolgten. Klein hatten sie in Clubs und Kneipen angefangen, und die Konzerte in den 1980er Jahren zu ihren LPs „Love Drive“, „Animal Magnetism“ und „Blackout“ hatten eine solche Ausgewogenheit und Qualität, dass die Kombination von fetzigen Gitarrensoli und eingängigen Refrains zum Mitsingen geradezu genial war.
Blackout: mit einem Düsenantrieb hebt die Gitarre ab
Alsbald wurden die Töne wieder rockiger, wobei man in keiner Phase des Konzertes den Senioren ihr Alter anmerkte. Schon bei ihrem Konzert im Jahr 2010, das ich mit unserem Sohn gemeinsam in der Dortmunder Westfalenhalle besucht hatte, hatten die Musiker ihre Tour als Abschiedstour bezeichnet. Das Gründerduo, Klaus Meine und Rudolf Schenker, damals Anfang 60, hatten wohl an den Ruhestand gedacht. Doch dieser Abschiedstour folgten viele weitere Abschiede. In einem Interview hatte Klaus Meine geäußert, dass sie sich ständig vornehmen würden, kürzer zu treten und irgendwann auszusteigen. Doch daraus wurde nie etwas, im Gegenteil. Es gäbe nichts schöneres als vor ihren Fans zu spielen und von ihnen umjubelt zu werden. So gaben sie bis heute rund um die Welt ihre Konzerte und könnten sich kaum etwas schöneres vorstellen. Klaus Meine und Rudolf Schenker, beide heute 71 Jahre alt, Matthias Jabs, 64 Jahre alt, flitzten über die Bühne, als habe das Alter keinerlei Spuren hinterlassen. Dabei machte Rudolf Schenker mit der Gitarre seine Luftsprünge, als sei nichts gewesen. Klaus Meines hohe Stimme klang klarer, heller und rockiger denn je. Der Schlagzeuger Mikkey Dee und der Bassist Pawel Macidowa waren mit 56 bzw. 52 Jahren einiges jünger als die gestandenen Herren.
Bei Stücken wie „Tease me, please me“, „Bad Boys running Wild” oder “Big City Nights” drehten die Gitarristen das Spieltempo auf ihren Sologitarren wieder auf, wobei das Publikum mitsang und mitklatschte. Bei „Blackout“ drehte Rudolf Schenker seine Gitarre auf eine ungewöhnliche Art auf. Zu den harten Schlägen auf die Saiten besaß die Gitarre eine Art von Düsenantrieb. Zwei zylinderartige Körper, die wie die Triebwerke eines Flugzeugs aussahen, versprühten Rauch, und Rudolf Schenker fetzte über die Bühne, als könne die Gitarre in jedem Moment in die Luft abheben. Das Spektakel jagte von einem Höhepunkt zum nächsten. Am Schluss von Mikkey Dees Soloeinlage auf dem Schlagzeug fügten sich auf einer Leinwand alle Covers ihrer LPs zusammen, angefangen von ihrem 1972er-Album „Lonesome Crow“ bis zu ihrem 2015er-Album „Return to forever“. Und derzeit haben sie angekündigt, dass sie im nächsten wieder in die Studios gehen möchten und ein neues Album aufnehmen möchten.
Schriftzug der Scorpions (oben links), Friedensbotschaft mit dem Stück "Send me an Angel" (oben rechts), Gitarre mit Düsenantrieb bei dem Stück "Blackout" (unten links), Verabschiedung der fünf Musiker (unten rechts)
Wie bei diesem Scorpions-Konzert gibt es Momente, da würde man am liebsten die Zeit anhalten. Augenblicke sollten bis in alle Ewigkeit andauern, das begrenzte Zeitkontingent sollte nie enden. Nach dem Stück „Big City Nights“ war es dann soweit, dass die fünf Musiker hinter der Bühne verschwanden. Einer reichen Auswahl ihrer besten Stücke hatte das Publikum zugehört, wobei es den Scorpions sicherlich unmöglich war, aus all ihren super-tollen Stücken die aller-aller-besten für solch ein Konzert auszuwählen.
Nachdem sie die Bühne wieder betraten, spielten sie die obligatorische Zugabe, von denen die eine seicht war und die andere rockig. Bei „Still loving you“ durfte das Publikum zum Schluss noch einmal kräftig mitsingen, bei dem allerletzten Stück „Rock you like a Hurricane“ ging in einem fulminanten Finale ordentlich die Post ab. Matthias Jabs jagte die Akkorde hintereinander, bis ein Schlußakkord den Schlußpunkt auf dieses gewaltige Rockkonzert setzte. Als die fünf Musiker auf die Bühne traten, sich in den Armen lagen und sich von der begeisterten Menge verabschiedeten, hatte dies beinahe etwas Wehleidiges. Das Konzert war ein für allemal vorbei, die rockigen Klänge hallten in den Ohren nach. All die Hymnen des Rock summte ich vor mich hin. Fast anderthalb Stunden Rockmusik von feinsten waren vorbei, und frühzeitig werde ich die Tourdaten durchstöbern, inwieweit es 2020 ein Wiedersehen geben wird.