Tagebuch Februar 2023
1. Februar 2023
Seit dem 30. Januar arbeite ich wieder, und vom Prinzip her funktioniert dies auch. Eine Woche lang hatte mich die Hausärztin krank geschrieben, den darauf folgenden Montag blieb ich zu Hause, und einen Tag später, am Dienstag nahm ich offiziell meinen Dienst wieder auf. Die Symptome waren verschwunden, die Lutschtabletten hatten gewirkt gegen die Halsschmerzen. Ich konnte mich nun wieder konzentrieren auf Berechnungen, auf Excel-Tabellen, auf Mengenermittlungen und auf Diskussionen, was wie warum nach oben oder nach unten gegangen war. Relativ schnell war ich wieder im Thema, um mir aus all den Zahlengerüsten ein Bild zu machen. Körperlich oder mit meiner Stimme war ich wieder bei unseren Teammeetings dabei, und mein fürsorgender Chef fasste nach, ob ich denn wirklich fit sei. Der Test war auf jeden Fall negativ, offiziell konnte ich als genesen gelten und der Alltag konnte im normalen Puls weiter gehen.
2. Februar 2023
Mit der Unterbrechung von vielen Monaten unternahm ich den Versuch, den Home Office-Arbeitsplatz nach extern an einen von mir gewählten Ort zu verlagern. Früher waren es Orte gewesen wie Rheinbach, Brühl oder auch Koblenz. Dies war allerdings nur dann möglich, wenn ich keine oder nur wenige Termine hatte, wenn keine dringenden Themen für den Chef zu klären waren und wenn der Bedarf zur telefonischen Kommunikation innerhalb des Teams gering war. Heute war solch ein Tag, zumindest nach 10 Uhr. Bis 10 Uhr war ich im Büro, danach verlegte ich meinen Home Office-Arbeitsplatz in das Café Extrablatt nach Koblenz. Das klappte eher schlecht, woran maßgeblich die Bahn Schuld war. Bei der Ankunft in Koblenz hatte der Zug dreißig Minuten Verspätung, so dass ich eine ähnliche Verspätung bei der Rückfahrt in Koblenz einplanen musste. Dadurch verkürzte sich das Zeitfenster allzu sehr. Mittags aß ich eine XL-Portion Fritten, danach verblieb ein Zeitfenster von zweieinhalb Stunden, die ich im Café Extrablatt und für einen Rundgang durch Koblenz zur Verfügung stand. Da der RRX über WLAN verfügte, hatte grundsätzlich noch die Zeit während der Zugfahrt zum Arbeiten. Das Arbeiten im Café Extrablatt war sehr konzentriert und mit denjenigen Themen, die ich mir vorgenommen hatte, kam ich gut voran. Für einen Rundgang bis zum Rhein reichte die Zeit allerdings nicht. Die Eindrücke in Koblenz waren abgebrochen, und ich ärgerte mich über die wenig vorhandene Zeit. Beim Gang über Plätze und durch Gassen bis zum Jesuitenplatz schnupperte ich ein wenig an der beflügelnden Atmosphäre der Stadt, deren Schönheit mich unverändert in ihren Bann zog. Die Nischen, Winkel und Ecken der Altstadt waren verspielt, die Liebfrauenkirche passierte ich im Vorbeigehen, die Zeit zum Verweilen und für Detailbetrachtungen fehlte. Es war ein schneller Abriss dieser Stadt, bei dem ich vieles verpasste, vermisste und für später aufschieben musste. Die Gelegenheiten, aus den gewohnten Alltagsrhythmen auszusteigen, waren seltener geworden. Zeitnah würde ich wieder zurück befördert werden in die Alltagszyklen, diesem Kreislauf zwischen Zuhause, Home-Office, Arbeitsplatz und ein bißchen Dreier-WG. Und wenn ich denn einmal ausbrechen konnte, dann war alles so eng eingezwängt in einen zeitlichen Rahmen, der mehr Stress als Müßiggang mit sich brachte. Noch überwog die Schönheit und die angenehmen Seiten dieser Stadt, aber von all den Freiheiten vor der Pandemie war ich sehr weit entfernt.
3. Februar 2023
Unsere Eieruhr war kaputt, und unsere bisher gehandhabten Einkaufswege, um an eine neue Eieruhr heran zu kommen, waren uns versperrt. Der real-Supermarkt war aus dem HUMA-Einkaufszentrum verschwunden. Und es stand weiterhin schlecht um den real. Die Supermarktkette war bereits im letzten Jahr zerschlagen worden, etwa sechzig Märkte waren übrig geblieben, und diese warfen weiterhin Verluste ab. Dass das Warenhauskonzept out war und die Kunden lieber anderswo einkauften, konnte ich nicht begreifen. Genauso bei Kaufhof, Karstadt & Co. Solch eine Eieruhr hätten wir normalerweise bei real gekauft, aber der war seit Mai letzten Jahres geschlossen. Einkäufe bei real waren so bequem gewesen, die Wocheneinkäufe zu erledigen, gleichzeitig Haushaltswaren kaufen zu können, Besteck oder Geschirr – oder auch eine Eieruhr. Wo konnten wir nun solch eine Eieruhr kaufen ? Bei EDEKA, REWE, ALDI oder LIDL würden wir wohl vergeblich suchen, Haushaltsfachgeschäfte gab es keine in unserer Umgebung, da blieb so ungefähr nur der Online-Kauf im Internet übrig, wogegen ich mich allerdings sträubte. Allenthalben sah man diese Amazons, die Paketdienste und andere Zusteller durch die Siedlungen fahren – war der Kunde so träge geworden, dass er sich alles ins Haus liefern ließ und keinen Schritt vor die Haustüre in ein Warenhaus setzte ? Anscheinend hatte der Kunde dies so mit entschieden, dass die Warenhäuser Verluste einfuhren, solch hohe Verluste, dass die Existenz auf dem Spiel stand. Wohin verlagerte sich das Warenangebot, da die Kunden weiterhin Dinge wie eine Eieruhr benötigten ? Hatte uns Corona umerzogen, dass wir keine persönlichen Kontakte, sondern nur noch virtuelle Kontakte pflegen sollten ? Dass die Kunden über den Erfolg von Produkten oder auch Vertriebskanälen entschieden, das gehörte zu unserer Marktwirtschaft. Dass dann aber deren Faulheit und Trägheit über die Einkaufswege bestimmten, das konnte nicht den Wesenskern unserer Marktwirtschaft ausmachen. Der Kunde als Black Box und die große Unbekannte. Deren Kundenwünsche trieben eine Umorientierung in einem großen Stil voran, was ich nicht für möglich gehalten hätte.
4. Februar 2023
Gerne mag man darüber schimpfen, dass alle nur auf das Geld schauen, wenn wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen sind. Jeder Euro muss zwei-, dreimal und noch öfter umgedreht werden, bis man ihn ausgibt. Diese am Euro ausgerichtete Sichtweisen bringen Pfennigfuchser dort hinein, wo sie gar nicht in die Landschaft passen. Aber manchmal ist solch eine Vorgehensweise richtig, und man fragt sich, wieso nicht früher jemand darauf geachtet hatte. Beispiel dafür sind die Fahrräder, die hierzulande an allen Bushaltestellen vorzufinden sind. Sie mögen sinnvoll sein, um Kurzfahrten mit dem Auto zu unterbinden. Aber bei uns im Ort habe ich noch niemand mit solchen RSVG-Fahrrädern herum fahren sehen. Bereits mehrfach habe ich mich gefragt, dass Fahrräder im Fahrradgeschäft nicht gerade billig sind und wer das alles bezahlt hat. Zählt man all die Fahrräder zusammen, die an sämtlichen Bushaltestellen stehen, kommt eine erkleckliche Summe von Anschaffungskosten zusammen. Dem stehen nahezu keine Einnahmen gegenüber. Die Antwort, wer das alles bezahlt hat, ist ganz einfach, das habe ich zuletzt gelernt: der Steuerzahler. Der Kontext, wo ich dies gelernt habe ? Das war der Bericht über das Haushaltsloch in unserer Stadt. Stolze 16,9 Millionen Euro stand der Haushalt im Minus, so dass der Haushalt nicht genehmigt wurde und die Stadt sich in vorläufiger Haushaltsführung befindet. So wie in vergangenen Jahren einer hohen Verschuldung, wurde fleißig lamentiert. Über die gestiegenen Energiepreise, über Flüchtlinge aus der Ukraine oder über Investitionen in die Digitalisierung. Als Randnotiz wurden auch 40.000 Euro für RSVG-Fahrräder erwähnt, die kein Mensch nutzt. Was soll getan werden, um den Haushalt wieder in Ordnung zu bringen ? Als Bürger muss ich feststellen, dass an Kernprobleme nicht heran gegangen wird. Zu viele Formulare, zu viele Akten, zu unflexible Vorschriften, zu viel und zu langsames Personal. Stapel von Akten könnte man digitalisieren, am liebsten würde der Kunde über das Internet oder telefonisch mit der Verwaltung reden – und weniger durch persönliche Besuche. Papierkram sollte Online erledigt werden können, Unterlagen wie Personalausweise sollten mit der Post durch die Gegend geschickt werden, Meldebescheinigungen sowieso. Dann wäre auch weniger Personal nötig, wobei darüber zu reden wäre, wie dieses denn abzubauen oder in andere Bereiche zu verlagern wäre. Das wäre die neue Vision einer Stadtverwaltung, wie der Bürger sie gerne hätte und ohne Rekordminus im Haushalt.
5. Februar 2023
Es nieselte, der Himmel war trüb, dicke Wolken zogen unentwegt auf und ab, eigentlich ein ideales Wetter für einen Spaziergang durch die Wahner Heide. Nach dem Spaziergang vor einer Woche verspürte ich einen erneuten Drang in die Wahner Heide, die ich tatsächlich vermisst hatte für einen längeren Zeitraum. Der Drang war so intensiv, dass ich mich zu Hause für eine Zeitspanne von eineinviertel Stunde abmeldete und einfach wegfuhr. Dreißig Minuten Spaziergang blieben demnach übrig, dreißig Minuten Bewegung an der frischen Luft, eingehüllt von diesem feinen Netz von Regen. Kurz hinter der Abbiegung nach rechts vom Mauspfad aus parkte ich, von dort aus begann hinter zwei Absperrstangen ein Wanderweg. Diesem folgte ich immer geradeaus, indem ich das dreißigminütige Zeitfenster im Auge behielt und nach der halben Zeit zurück kehrte. Bei dem feinen Nieselregen begegnete ich keiner Menschenseele, fast gar nicht wurde die Stille durch Fluglärm unterbrochen, so dass die Stille und die Ruhe perfekt waren. Mit dem Bewuchs von Kiefern, die auf den sandigen Böden dominierten, fühlte ich mich inspiriert. Ebenso spürte ich, dass die Bewegung durch die Natur mir zuletzt gefehlt hatte. Es waren fantastische Einblicke in diese Vegetation über den teilweise matschigen Waldweg, wo der Waldboden bisweilen die Schritte abfederte. Den Kopf bekam ich frei, so manche Alltagslast fiel von mir ab. Diese Kombination von Natur, Home Office, Arbeitsplatz konnte ich nicht immer zu Hause unterbringen. Daher diese plötzliche Flucht hinaus in die Wahner Heide mit dem Drang, mich an der frischen Luft bewegen zu wollen. Eine Bewegung, die ich brauchte und die ansonsten allzu oft zu kurz kam.
6. Februar 2023
Im Grunde genommen, war es eine nette Idee. Der eine WG-Bewohner wollte ein Hörspiel aufnehmen, und dazu bat er um unsere Mitarbeit. Das Märchen Dornröschen nahm er auf, wozu einige Betreuer Textpassagen in sein Mikrofon sprachen, der eine WG-Bewohner ebenso, und wir kamen als weitere handelnde Personen dazu. Die Aufnahme geschah, so wie ich es noch aus meiner Jugendzeit kannte, nämlich mit Kassettenrekorder und Mikrofon. Die Handlung, in die wir als Akteure eingebunden waren, hatte eigentlich nicht viel mit dem Märchen zu tun. Dornröschen, gespielt von seiner Freundin, feierte ihren 15. Geburtstag, er war der Koch, ich sollte ihren Vater spielen und meine Frau ihre Mutter. Als Vater und König in einer Person, trug ich jede Menge Verantwortung und hatte genauso viel mitzubestimmen. Dornröschen wollte Sekt und jede Menge weiteren Alkohol trinken, was ich ihr dann verbieten musste. Einen Berg von Geschenken wünschte sich Dornröschen, Schmuck und erlesene Kleider, wozu ich ihre Wünsche dann ebenso dämpfen musste. Es fehlte an Geld, dazu musste ich mir eine Begründung einfallen lassen, mir fiel der Ukraine-Krieg ein, die wir mit Panzern unterstützen mussten. Der Koch befragte mich, wie denn das Geburtstagsessen aussehen sollte. Sie wünschte sich einen Festtagsbraten, auch hier musste ich ihre Wünsche zurück schrauben. Ich schlug Gemüse vor, Weisskohl, Pilze, Tomatensalat, was nicht ganz Dornröschens Geschmack traf. Hier lenkte meine Frau ein mit dem Nachtisch, was es doch für leckere Puddingsorten gäbe, und so glich der Nachtisch das allzu üppige Gemüse aus. Viel Klamauk brachten wir bei dem Hörspiel zusammen, bisweilen lachten wir herzhaft über diejenigen Gesprächssequenzen, die uns spontan eingefallen waren. Eine kurze Zeit fühlten wir uns so, dass wir in die Rolle von Schauspielern schlüpfen mussten, nicht verkleidet und auf der Bühne, aber mit unserer Stimme. Es war ein interessanter Einfall unseres WG-Bewohners.
7. Februar 2023
Mit all diesen Lokalblättchen ist das so eine Sache. Reporter und Redakteure müssen sich wie Hofberichterstatter vorkommen, die unter den Gegebenheiten der Pressefreiheit nur über das berichten sollen, was den Drahtziehern in der Lokalpolitik als angenehm erscheint. Gerne kehren sie ihre Seite heraus, was gut funktioniert. Man schimpft gerne über die große Politik ganz oben, während die Menschen, die in den Winkeln unserer Republik leben, vergessen werden. Oft fehlt es an Geld, weil die Politiker ganz oben die Belange der Gemeinden ganz unten vergessen haben. Große Weltereignisse wie der Ukraine-Krieg schweißen zusammen, weil man den gemeinsamen Feind des bösen Russen für sich ausgemacht hat. So ist dieser Jahresrückblick interessant, weil ich über vieles, was in unserem Ort passierte, nicht informiert war. Von Street Food Festival über die Rettung einer Waldohreule bis zu Steffis Kneipenquiz waren viele Geschehnisse dabei, die interessant klangen. Aber der Grundton ? Der kam im Stil von Propaganda daher. Lokale Platzhirsche wie die Stadtentwicklungsgesellschaft machten sich breit, die federführend waren über eine Baumesse, wozu in aller Ausführlichkeit berichtet wurde, dazu ein Business Treff und ein Karrieretag. Um zu erahnen, was wirklich vorgegangen war, dazu musste man diejenigen Themen hinzufügen, über die nicht berichtet wurde. So der Neubau der Hauptverbindungsstraße zur Nachbarstadt, dessen Bauzeit ein ganzes Jahr betragen hatte. Oder das perfekte Verkehrschaos, weil eine Woche lang eine weitere Baustelle auf einer anderen Hauptverkehrsstraße sich damit überschnitt. Wie andere Lokalblättchen, berichtete der Jahresrückblick nur über Erfolgsmeldungen und gute Laune. So waren beim Stadtradeln ganz viele Kilometer erradelt worden. Der Jahresüberblick verschwieg aber, dass unsere Stadt beim Fahrradklimatest wegen des schlechten Ausbaus des Radwegenetzes auf einer der hintersten Ränge gelandet war. Mehrere Lokalgrößen standen Spalier bei einem Blühstreifenprojekt in unseren Feldern. In direkter Nachbarschaft wurden aber ein großflächiger Anbau von Rollrasen ausgeblendet, welcher die Felder in eine regelrechte Grassteppe verwandelte. Verdrehung der Tatsachen auch beim Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs. Die Planungen für eine neue Straßenbahnlinie von Köln-Porz-Zündorf nach Bonn wurden konkreter. Diese Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs erschien nur in einem Nebensatz, und zwar in einer negativen Bewertung. Gezeigt wurde eine Kirschblütenallee im Ortsteil Lülsdorf. Der Berichterstatter klagte darüber, dass die Zierkirschbäume irgendwann gefällt werden würde, wenn denn die neue Straßenbahnlinie gebaut würde. In mancher Hinsicht ließen sich die Bürger unserer Stadt dahingehend beschreiben, was sie nicht wollten. Oder wodurch sie sich belästigt fühlten. Der Jahresrückblick berichtete über die erste Fahrradstraße in unserer Stadt – prompt hagelte es Proteste der Anwohner. Ähnlich gestaltete sich die Gemengelage, ohne dass der Jahresrückblick darüber berichtete, beim Bau einer neuen Ethylenoxid-Anlage auf dem Werksgelände der Evonik-Werke. Glaubte man den Protestbannern an den Hausfassaden, waren die halben Ortsteile Ranzel und Lülsdorf dagegen. Proteste auch gegen die neue Autobahn, die die linksrheinische A555 mit der rechtsrheinischen A59 verbinden sollte. Die Planer versuchten, dem durch möglichst lange Tunnel und der kürzesten Streckenverbindung entgegen zu wirken. Ein weiteres leidgeplagtes Thema war der Weiterbau der Umgehungsstraße, der durch Klagen und Gerichtsverfahren lahm gelegt werden drohte. Über diese Mentalität unserer Mitbürger fand sich nichts in dem Jahresrückblick. Anstatt dessen viel gute Laune, feiernde Karnevalisten, rauschende Parties der Junggesellenvereine oder das Aufpeppen der Kirmes durch einen Kirmeslauf. Liebe Bürger dieser Stadt, was wollt ihr mehr ? Ich hatte von Anbeginn ein zwiespältiges Gefühl, in dieser Stadt zu wohnen. So etwas wie Heimat zu definieren, fiel mir schwer.
8. Februar 2023
Anderen, das habe ich in dem Jahresrückblick gelernt, fiel es einiges leichter, ihre Heimat zu definieren. Üblicherweise sagt man dies gerne den Kölnern nach. Ein ganzes Leben lang haben sie in ihrem Veedel gewohnt, sie lieben ihre Stadt, und ohne den Blick auf die beiden Türme des Domes würden ihnen ganz wesentliche Lebensinhalte fehlen. So manchen Bewohnern unserer Stadt geht es ganz ähnlich, allerdings ohne einer der größten Kathedralen Europas, bescheidenere Kirchen eines Heiligen Dionysius oder Laurentius reichen da wohl aus. Eines dieser Heimatgesichter, der in einer Sparkasse arbeitet, ist in dem Jahresrückblick genannt. Zitate aus dem Jahresrückblick: „Nicht nur ist er hier groß geworden und hat – bis auf ein Jahr Ausnahme – sein gesamtes Leben in Niederkassel gewohnt, auch seine beiden Kinder wachsen nun hier auf … Ich bin froh, durch den Fußball, meine Ehrenämter und meinen Job, aber auch durch meine Kinder, viele andere Niederkasseler zu kennen. Wir alle sind Niederkassel. Und Niederkassel ist mein zu Hause.“ Solch eine Heimatverbundenheit zu meinem Wohnort kenne ich effektiv nicht. Gerade mit unseren Kindern haben wir zwar Wurzeln geschlagen, wir haben einen festen Freundeskreis und gerade durch den Schwager haben sich weitere Verbindungen eröffnet. Was aber das Erscheinungsbild unserer Stadt betrifft, könnte ich Redensarten aus Duisburg oder Ludwigshafen übernehmen: „Das schöne an unserer Stadt ist, dass man schnell wieder raus ist.“ Nur wenig zieht mich an unserer Stadt an, und der Bewegungsdrang ist groß, aus der Stadt heraus zu wollen. Und das angenehme ist, dass die Verkehrsverbindungen – auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln – es hergeben, schnell in den Städten Köln oder Bonn zu sein oder auch im Umland. Diejenigen Mitbürger, die fast ein ganzes Leben lang in dieser Stadt gewohnt haben, mögen es erdulden, wenn in regelmäßigen Zyklen Baustellen an besonders wichtigen Verkehrsabschnitten über Wochen, Monate oder sogar Jahre den Verkehr lahm legen. Sie mögen auch erdulden, dass alles, was ein bißchen historisch aussieht, gleich abgerissen wird. Identitätslose Wohnbauten, in denen möglichst viele Wohneinheiten auf engem Raum gebaut werden, platzieren sich an deren Stelle. Gemütliche Ecken wird man in unserem Ort vermissen, Geselligkeit werden diese Mitbürger entweder in ihren Gärten oder in einer der drei Restaurants in unserem Ort suchen. Diese drei Restaurants sind eine der wenigen Inseln, wo ich selbst mich halbwegs wohl fühle, doch beim Verlassen der Restaurants deprimiert mich sogleich das gleichgültige Erscheinungsbild unseres Ortes, wo man Akzente vermissen wird. Diejenigen Mitbürger, die fast ihr ganzes Leben in diesem Ort wohnen, wird das abweisende Umfeld kaum auffallen, wenn sie Ärzte aufgesucht haben, in den beiden dicht nebeneinander liegenden Apotheken Tabletten eingekauft haben oder in den umliegenden Geschäften Besorgungen gemacht haben. „Das schöne ist, dass man schnell wieder raus ist“, diese Redensart der Duisburger oder Ludwigshafener trifft auf solche Besorgungen nur bedingt zu, weil das Ordnungsamt geradezu scharf darauf ist, die Parkscheiben zu kontrollieren und fleißig Knöllchen zu verteilen. Meine eigene Identität definiere ich lieber weiter. Als Rheinländer fühle ich mich wohl, und in dieser räumlichen Eingrenzung würde ich so etwas wie Heimat definieren. Von Köln bis Bonn, vom Niederrhein bis an den Mittelrhein, vom Selfkant bis ins Bergische Land. Selbst Düsseldorf würde ich dazu zählen und Teile des Ruhrgebietes. Vielleicht ist wirklich das schönste an unserer Stadt, dass man schnell wieder raus ist.
9. Februar 2023
Es gibt Themenfelder, die habe ich in meinem Tagebuch ausgeklammert. So etwa die Politik oder den Sport, denn erstens kenne ich mich bei der Politik viel zu schlecht aus, zweitens finde ich den Sport viel zu unwichtig und drittens würde durch überquellende Themen die Struktur abhanden kommen. Ein weiterer Themenbereich ist bislang unterrepräsentiert, das ist mein Arbeitsplatz. Zu Unrecht, wie ich finde, weil er mich doch mittlerweile über vierzig Dienstjahre lang beschäftigt. Dabei ist meine Einstellung stets positiv gewesen, in meiner Arbeit habe ich Sinn und Inhalt erkennen können. Mit meinen Arbeitskollegen habe ich mich stets bestens verstand, und ich bin jeden Tag motiviert und voller Freude an meinen Arbeitsplatz gegangen. Zur Motivation und zur Freude hatte die heutige Ganztagesveranstaltung beigetragen, eine sogenannte Kick-off-Veranstaltung mit vielen Rednern, Vorträgen und Beiträgen, welche einen guten Gesamtüberblick über das Geschehen im Finanzbereich unserer Firma verschaffte. Wichtig war der Schritt heraus aus dem „Homo oeconomicus“, der sich ausschließlich in einer Welt der zählbaren Geldeinheiten bewegt. Tagtäglich befassen wir uns mit dicken Zahlenpaketen, an der Basis, in den Kundenbereichen, gibt es aber eine Welt außerhalb dieser Zahlenpakete. Wir interagieren mit Kunden – und auch mit Mitarbeitern – die den psychologischen Gesetzen des Menschen gehorchen. Erfolg ist für jede Firma nur möglich, wenn die Mitarbeiter den Sinn und die Inhalte ihrer Firma repräsentieren und dies in ihr Verhalten am Arbeitsplatz umsetzen. Hinzu kam eine Pyramide, die als „Mindsetting“ beschrieben wurde. Skills und Fähigkeiten der Mitarbeiter sind weiter zu entwickeln, neue Denkhorizonte sind zu erschließen. Neuerungen müssen Mitarbeiter verstehen, man muss die vermitteln und die Mitarbeiter müssen diese verinnerlichen. All die positiven Geschäftszahlen, womit die Redner und Vortragenden glänzten, setzten auf dieser Basis des „Mindsettings“ auf, denn ohne loyale Mitarbeiter ging nichts. In meinem eigenen Welt habe ich ständig nach Schnittmengen zwischen dem „Homo oeconomicus“ und geisteswissenschaftlichen Weltbildern gesucht. Diese Kick-off-Veranstaltung bot diese Schnittmengen. Blicke über den Tellerrand des Alltagsgeschäftes, bereichert durch Ansätze der Psychologie, von strategischen Denkansätzen und der Übersetzung der „weichen“ Faktoren in Kennzahlen.
10. Februar 2023
Die Lage dieser weggeworfenen Maske versinnbildlicht, welchen Stellenwert die Pandemie noch hat. Weggeworfen zwischen dem Schotter im Gleisbett, will niemand mehr etwas damit zu tun haben. Sie ist nicht für beendet erklärt worden, aber wir befinden uns in einer Phase, in der das schlimmste überstanden scheint. Meine Frau beschrieb zwar den Fall einer Arbeitskollegin, dass sie mehrere Monate nach der Infizierung nur mit Mühe in der Lage ist, einzukaufen. Aber im Gegensatz dazu sind diejenigen Fälle minimal, bei denen die Patienten in den Intensivstationen eine künstliche Beatmung benötigen. Die Impfungen haben längst gegriffen, der kritische Pfad der Intensivstationen ist überwunden. In diesem Winter hat sich so vieles normalisiert, dass selbst die Karnevalisten ihren Straßenkarneval und ihren Sitzungskarneval wieder feiern können. Vorbei sind die Schreckenszeiten der Lockdowns, vorbei die Zeiten, dass man Impfnachweise vorzeigen musste, um in Cafés einen Kaffee trinken konnte. Der Wegfall der Maskenpflicht im öffentlichen Personennahverkehr war ein Meilenstein, vor der Pandemie übliche Bewegungsfreiheiten sind wieder zurück gekehrt. Die weggeworfene Maske – im Mülleimer meines Bewusstseins ist sie inzwischen angekommen.
11. Februar 2023
Schockzustand in der Nacht von Freitag auf Samstag, der zumindest ein positives Ende hatte. Unsere Tochter wollte mit ihrem Ex-Freund aus Dortmund reden, der allerdings nichts mit ihr zu tun haben wollte. Daraufhin setzte sie sich kurzfristig in die Bahn nach Dortmund, sie irrte dort herum und war auf ihrem Handy kaum erreichbar. Weit nach Mitternacht hatte sich die Situation dahingehend geklärt, dass ich sie auf der Polizeiwache in Schwerte abholen konnte. Aufgeputscht von der dramatischen Situation, brachte ich zumindest die Konzentration auf, zur nächtlichen Unzeit von 2:30 Uhr mich ans Steuer zu setzen und nach Schwerte zu fahren. Die Autobahn war auch dementsprechend frei. Das Leverkusener Kreuz hatte die Schrecken des Staus abgeschüttelt, die dreispurige Autobahn A1 konnte ich durch brettern, als ob nichts wäre. Autofahren wie im Paradies, das waren die positiven Begleiterscheinungen. Von Müdigkeit keine Spur. In der Polizeiwache in Schwerte traf ich gleich auf eine ganze Horde von Polizeibeamten, denen ich einen Teil der Geschichte erzählte. Ganz freundlich gesonnen, boten sie mir erst einmal einen Kaffee an, damit ich die Rückfahrt ebenso konzentriert bewältigen konnte. Um 3:45 Uhr startete ich die Rückfahrt und um 5:00 Uhr kehrten wir gemeinsam zu Hause zurück.
12. Februar 2023
Das Ereignis, worüber bereits im Vorfeld viel gesprochen wurde, war die Karnevalsfeier im Behindertentreff. Bereits mehrere Wochen im voraus herrschte helle Aufregung, ob ich denn in der Lage sei, die drei WG-Bewohner samt Freundin des einen Bewohners mit unserem Auto dorthin zu fahren. Meine Frau musste nämlich arbeiten, und die Karnevalsfeier begann bereits um 14 Uhr. So ungefähr jedes Mal, wenn ich dem Schwager begegnete, fragte er nach und er machte einen angespannten Eindruck voller Vorfreude wie ein kleines Kind. Freitag Nachmittag, als der große Tag näher rückte, hatte meine Frau einen Nudelsalat vorbereitet, da die Karnevalsfeier zu einem gewissen Teil aus Essen und Trinken bestehen würde. Am Samstag, nach der viel zu kurzen Nacht, konnte meine Frau es sogar organisieren, dass sie gegen 12.30 Uhr ihre Arbeit beendete. So konnte sie selbst die drei plus eine Person aus der Dreier-WG zur Karnevalsfeier fahren. Im Pfarrheim des Nachbarortes hatte man sich zahlreich eingefunden, nachdem, bedingt durch Corona, zwei Jahre lang kein Karneval gefeiert werden konnte. Dabei hatte meine Frau gedrängt, möglichst früh gegessen zu haben und loszufahren, um möglichst früh mit den vieren dort zu sein, um noch Plätze zu finden. Sogleich, nachdem meine Frau die viere dorthin gebracht hatte, kehrte sie wieder nach Hause zurück und holte sie gegen 18 Uhr wieder ab. Bei der Abholung zeigten die vier stolz ihre Orden, das war eine Art Tradition, die die Organisatorinnen aus Vor-Corona-Zeiten beibehalten hatten. Sie bastelten nämlich aus Alltagsgegenständen Orden. In diesem Jahr war es ein Clown, dessen Gesicht aus einer Diskette geformt war. Eine geniale Idee, dazu Disketten zu verwenden, die heute in Rechnern und Laptops kaum noch gebraucht wurden. Viele Disketten dürften im Müll landen, und diese Art der Verwendung als Karnevalsorden war wirklich interessant. Der Karnevalsprinz war gekommen, alle hatten viel Kuchen und Salat gegessen, der eine WG-Bewohner hatte seine Büttenrede gehalten, und allen hatte es prima gefallen.
13. Februar 2023
Die Würfel sind gefallen, heiß wurde diskutiert, Bürgerinitiativen hatten ihren Protest formuliert, wie so oft, stets dagegen und nie dafür. In den letzten Tagen wurde die Entscheidung der Öffentlichkeit bekannt gegeben, wie die Trassenführung der sogenannten „Rheinspange“, der Autobahnverbindung zwischen der linksrheinischen Autobahn A555 und der rechtsrheinischen Autobahn A59, aussehen sollte. Über zehn Varianten wurden im Vorfeld entworfen, nun haben die Planungsverantwortlichen diejenige Variante ausgesucht, die tatsächlich gebaut werden soll. Unterirdisch sollen große Streckenteile durch Tunnel gebaut werden, dazu wurde die kürzeste Streckenführung zwischen den beiden Autobahnen quasi mit dem Lineal gezogen, so dass die Bürgerproteste eigentlich minimiert werden sollten. Einhundertprozentig wird sich der Verkehrslärm nicht eindämmen können, so dass Klagen und Gerichtsverfahren abgewartet werden müssen. Das Pro und Contra, das im Vorfeld diskutiert wurde, kann man nicht immer nachvollziehen. So wurde diskutiert, dass eigentlich eine Verkehrswende zur Reduzierung des Autoverkehrs angestrebt werden sollte. Diese neue Autobahn widerspricht der Verkehrswende, indem sie weiteren Autoverkehr nach sich zieht. Schaut man auf die Protesthaltung, kann man diese darauf reduzieren, dass diejenigen, die dicht dran wohnen, dagegen sind, und diejenigen, die weiter weg wohnen, dafür sind. So auch dieses Plakat von Anwohnern, die näher dran wohnen und demnach zu den Gegner gehören. Bei solch einem Autobahnausbau ist es wie sonst in unserer Gesellschaft, die in Individuen zerfällt. Jeder denkt für sich selbst, was ihm am nächsten ist. Das Gemeinwohl und die Gesellschaft kommen erst ganz zum Schluß. Während unter den Gegnern einige weiter vor Gericht werden, werden die Befürworter die Autobahn fleißig nutzen, wenn sie denn irgendwann gebaut ist, und sich in den Fluss des Autoverkehrs einreihen.
14. Februar 2023
Heute war das erste Mal in diesem Jahr, dass ich mit dem Fahrrad ins Büro fuhr. Dabei waren die Begleitumstände etwas außergewöhnlich. Die Fahrradfahrt an für sich war schwierig, tagsüber sollte es zwar an die fünfzehn Grad werden, morgens war es aber noch gefroren. So musste ich mich ganz warm einpacken, das Telekom-Fleeceshirt mit der Aufschrift „Re-Invent. Einfach. Richtig. Machen“ hatte ich über den Pullover gezogen, den Schal hatte ich um den Hals gewickelt, die dicken Fingerhandschuhe schützten meine Hände. Als ich gerade losgefahren war, fiel mir ein, dass ich den Helm gar nicht aufgezogen hatte, so dass ich nochmals nach Hause zurück kehrte. Bei der Fahrt hatte ich Gegenwind, so dass die Kälte sich an meinem Gesicht fest krallte. Das war unangenehm, mein Blick richtete sich ausschließlich auf die Fahrspur des Fahrradweges, Einblicke in die Umgebung abseits der Fahrradweges unterblieben. Und dann begleitete das Ereignis die Fahrradfahrt, dass keine Busse und Bahnen fuhren, weil der öffentliche Dienst streikte. Ein Super-Stau hatte sich gebildet vor der Autobahnauffahrt, und auch in die Stadt hinein war kein Durchkommen. Als Fahrradfahrer konnte ich dies ignorieren, und dennoch begegnete ich auf dem kurzen Stück durch Beuel einem massiven Autoverkehr, der die Straßen verstopfte. Immerhin gab es keine besonderen Vorkommnisse, was den Puls meines Herzens betraf. Ich spulte die Kilometer ab, was beruhigte, da ich die letzte Fahrt zum Arbeitsplatz mit dem Fahrrad Mitte November letzten Jahres zurück gelegt hatte. In der Fußgängerzone und auf Fahrradstraßen lichtete sich der Autoverkehr. Nach Monaten der Untätigkeit, war ich auf dem Fahrrad auf dem Weg zum Arbeitsplatz wieder auf einem komplett anderen Niveau angekommen.
15. Februar 2023
In der Behindertenwerkstatt hat sich eine ganz komische Taktung ergeben, was die Karnevalsfeiern betrifft. Gefeiert wird nämlich nicht an den Karnevalstagen, sondern an dem Mittwoch vor Weiberfastnacht. Weiberfastnacht ist dann wiederum ein ganz normaler Arbeitstag. Für die Behinderten mag dies normal sein, dass sie sich bereits vor Karneval verkleiden. Sie singen dann in der Werkstatt Karnevalslieder, sind bester Laune. Anstelle von der Arbeit fahren sie von der Karnevalsfeier nach Hause zurück und anderswo, über die Karnevalstage, können sie den Karneval weiter feiern. In diesem Jahr hat die Vor-Karnevalsfeier noch eine weitere Facette erhalten. Nachdem die Karnevalsfeier in der Werkstatt beendet war, ging diese beim betreuten Wohnen weiter. Hinter dem Gelände der Behindertenwerkstatt haben die Mitarbeiter des betreuten Wohnens, die die Dreier-WG betreuen, ihre Büros, wo sie die Karnevalsfeier am Mittwoch vor Weiberfastnacht fortsetzen wollten. Der eine WG-Bewohner konnte von der Werkstatt dorthin rübergehen, die beiden anderen wurden von der Logopädie beziehungsweise von zu Hause eigens von einer Mitarbeiterin des betreuten Wohnens dorthin gefahren, und meine Frau hat die drei von der Dreier-WG wieder abgeholt. Auf die Frage, wie es denn gewesen sei, hatte sie die einstimmige Antwort erhalten „langweilig“. Dieses „langweilig“ bezog sich auf die Karnevalsfeier beim betreuten Wohnen, während die Karnevalsfeier in der Werkstatt eine positive Rückmeldung erhielt. Man habe nur herum gestanden, es gab Kuchen zu essen und ein paar Schnittchen, aber nicht einmal Kaffee dabei. Kuchen ohne Kaffee ? Nur mit Mineralwasser oder Cola ? Das erschien uns undenkbar – und gegen den Geschmack. So war es denn ein Tag mit gemischten Eindrücken für die Dreier-WG, wobei der Karneval beim Zug am Karnevalssonntag durch unseren Ort weiter gehen dürfte.
16. Februar 2023
Was ich heute unternahm, gehörte zu den unangenehmen Dingen, die ich gerne vor mir herschob. Schon seit sieben Jahren schleppte ich einen Nabelbruch mit mir herum, der keine Beschwerden verursachte. Im Verlauf der Jahre hatte er sich aber vergrößert, und mein Hausarzt meinte, er müsse durch eine Operation entfernt werden. Eine Weile dauerte es, bis sich der zuständige Arzt – ein junger, schlanker und wendiger Kerl – im Magen- und Darmzentrum des Krankenhauses Köln-Porz den Bauchnabel anschaute. Etwa sechs bis sieben weitere Wartende hatten sich im Warteraum eingefunden, wobei die Abarbeitung der Wartenden relativ schnell geschah. „… es zeigte sich eine eingeklemmte, livide verfärbte Nabelhernie, Bruchinhalt Fettgewebe, Bruchlücke ca. 2 cm, nicht vollständig reponibel“, so beschrieb der zuständige Arzt den Zustand des Bauchnabels in seinem Aufnahmebefund. Dass ich einen OP-Termin benötigte, quittierte die Mitarbeiterin in der Patientenannahme mit einem leisen Lächeln. Die Termine würden allgemein mittelfristig liegen. Die Terminsuche in ihrem Rechner dauerte ziemlich lange, wobei sich die Mittelfristigkeit bestätigte. Am 15. Juni sollte der Termin liegen, was ich eher positiv und gelassen nahm. Meine Angst vor dem Termin konnte ich nämlich auf die lange Bank schieben.
17. Februar 2023
Karneval war unser Töchterchen unterwegs und es fehlte ihr an Zeit, sich um die Bewerbung beim Berufskolleg zu kümmern. Meine Frau hatte ihr das Kostüm einer Katze zur Verfügung gestellt, um sich für Weiberfastnacht an ihrer Schule zu verkleiden. Das dürfte verdammt kalt gewesen sein, als sie morgens mit nackten Beinen das Haus zur Schule verließ. Nachmittags sollte es dann dauern, bis sie nach Hause zurück kehrte. Mit Schulkameraden feierte sie Weiberfastnacht, und an oberster Stelle stand erst einmal der Karneval. So hatte sie die Bewerbung beim Berufskolleg, die wegen der Fristen notwendig war, einige Tage vor sich hergeschoben. Ende nächster Woche lief die Bewerbungsfrist ab, und weil sie nicht wusste, ob sie denn einen Ausbildungsplatz ergattern würde, musste sie die Option beim Berufskolleg wahren. Damit sie sich beim Berufskolleg bewarb, mussten wir ihr so ziemlich hinter her rennen. Ihr eigener Antrieb dazu war gering, wir drängten sie immer wieder, was sie auf die lange Bank schob. Weiberfastnacht mit Freunden unterwegs zu sein, zog sie vor einer Bewerbung beim Berufskolleg vor. Über die Internetseite www.schueleranmeldung.de konnte man sich bewerben, außerdem mussten die Unterlagen mit der Post an die Postadresse des Berufskollegs geschickt werden. Es hakte an dem Bewerbungsschreiben, dessen Fertigstellung sich immer weiter nach hinten schob. Schließlich machten wir Druck mit den Karnevalstagen: Rosenmontag waren viele Postfilialen geschlossen, und wenn die Unterlagen nicht frühzeitig am Samstag verschickt werden würden, wäre die Wahrung der Frist womöglich gefährdet. So hatte denn unsere Tochter am Freitagabend ihre Unterlagen samt Bewerbungsschreiben beisammen, sie kamen in einen Briefumschlag und meine Frau nahm den Umschlag am Samstagmorgen zum Versand mit in die Post.
18. Februar 2023
Beim Friseur hangelten sich unsere Gespräche Personen entlang, die Herzinfarkte erlitten hatten, danach gingen wir über zum Inhaber des Gartenmarktes, wo meine Frau arbeitete. Ausgangspunkt des Gesprächs war der Hund der Friseurin, mit dem sie am Vortag spontan bei der Tierärztin gewesen war – dem Hund war ein kariöser Zahn gezogen worden. Vor etwas mehr als einem halben Jahr war dem Lebensgefährten der Tierärztin während eines Arztbesuches schlecht geworden, er sackte in sich zusammen und starb im Wartezimmer. Er hatte mit 62 Jahren einen Herzinfarkt erlitten. Ein ähnliches Schicksal in einem ähnlichen Alter hatte die Frau des Augenoptikers in unserem Ort ereilt. Noch ein paar Tage vorher war sie quietschlebendig am Postschalter bei meiner Frau gewesen, auch ihr war schlecht geworden und sie war tot zusammen gebrochen, jede Hilfe durch den Notarzt war zu spät gekommen. Dann fügte ich dem Gespräch meinen eigenen Herzinfarkt hinzu. Bei mir war die Hilfe rechtzeitig geschehen, was auch damit zusammenhing, dass das kritische Zeitfenster gewahrt werden konnte. Nach dem Infarkt war ein relativ problemloses Leben wieder möglich, die Einschränkungen hielt ich für gering. Dann redeten wir über den Inhaber des Gartenmarktes, an dessen Poststelle meine Frau arbeitete. Auch er war zuletzt in sich zusammen gesackt, nach dem Auftritt des Dreigestirns in seinem Gartenmarkt. Der Rettungsdienst war herbei gerufen, der Unregelmäßigkeiten beim EKG feststellte. Der Inhaber hatte ein sogenanntes Vorhofflimmern, seine Frau fuhr ihn später in ein Krankenhaus, wo es den Ärzten nicht gelang, das Vorhofflimmerns durch ein Reset zu beseitigen. Ein paar Tage später wurde der Inhaber des Gartenmarktes entlassen, er arbeitete wieder in seinem Gartenmarkt, und die Konstellation war unglücklich. Der Gartenmarkt war neu gebaut worden, der Inhaber war in meinem Alter, also 63 Jahre alt, und der Pachtvertrag lief zehn Jahre, den er auch erfüllen musste. Das waren noch drei bis vier Jahre, und sein Hüftgelenk war bereits verschlissen, so dass er eigentlich eine künstliche Hüfte benötigt hätte. Dies scheiterte in der Vergangenheit daran, dass er keine Vertretung während seines krankheitsbedingten Ausfalls hatte und den Gartenmarkt nicht schließen wollte. Nun das mit seinem Vorhofflimmern. Aus Gründen seiner Gesundheit, müsste er eigentlich kürzer treten und die notwendigen Eingriffe vornehmen lassen. Aber er konnte nicht.
19. Februar 2023
„Dr zoch kütt“: in diesem Jahr konnten die Jecken und Narren wieder so feiern, wie man in Vor-Corona-Zeiten gefeiert hatte. Zwei Jahre Abstinenz durch Corona – und in diesem Jahr konnten die Jecken wieder so richtig los legen. Sitzungen hatte man gefeiert, Weiberfastnacht war bereits vorbei, und am Karnevalssonntag schauten wir uns den Zug in unserem Ort an. Wie in Vor-Corona-Zeiten, hatten sich die Wagenbauer, die Fußgruppen und alle anderen Teilnehmer eine Unmasse von Mühe gegeben. Wie viel Arbeit mochte in den Wagen und all den genähten Kostümen stecken ? Die Menge der Zuschauer war vergleichbar zu Vor-Corona, nicht mehr und nicht weniger. Karnevalslieder dröhnten aus Lautsprechern, und der Schwager und ich – meine Frau hatte Schmerzen in der Bauchseite – positionierten uns zunächst an einer Kreuzung nicht unweit vom Marktplatz in unserem Ort. Dort entdeckten wir sogleich drei andere Behinderte, die der Schwager kannte, und eine Mutter, die meine Frau besser und ich schlechter kannte. Etwas mussten wir uns gedulden, bis der Zug losging. Im großen und ganzen ähnelten die Wagen denjenigen aus Vor-Corona-Zeiten: der Theaterverein zeigte ein Opernglas in der Mitte seines Wagens, der Wagen des Kolping-Vereins war in den Farben seines orange-schwarzen Logos gehalten, gleich zwei Fußgruppen hatten sich als Steinzeitmenschen verkleidet, Musik aus den 1980ern plärrte aus den Lautsprechern eines mit CDs zugeklebten Wagens. Die Bläserkapelle aus Hendrik-Ido-Ambacht aus den Niederlanden war wie in Vor-Corona-Zeiten dabei, dagegen war die Ausbeute an Kamelle nicht so üppig wie vor Corona. Als der Zug mit dem obligatorischen Prinzenwagen zu Ende war, schauten wir uns den Karnevalszug an einer zweiten Stelle ein weiteres Mal an. Dort standen jede Menge Jugendliche um uns herum, die Schnaps in rauhen Mengen tranken, der von den Zugteilnehmern gereicht wurde. Hätte es Schnapsleichen gegeben, wären die Rettungssanitäter mit ihrem Rettungswagen gleich nebenan zur Stelle gewesen. Doch soweit kam es nicht. Anstatt dessen schauten die Jugendlichen eher irritiert drein, wenn ihnen Kamelle vor die Füße geschmissen wurden. Sie hoben sie dann auf und steckten diese meinem Schwager in die Stofftasche, die vorne auf seinem Rollator hing, weil sie nichts damit anzufangen wussten. „Dr zoch kütt“, nach etwas mehr als zwei Stunden war das zweimalige Zuschauen des Karnevalszuges, der zwei Jahre lang Corona-zwangsbedingt ausfallen musste, vorbei, und wir trotteten mit jeweils einem Beutel voller Süßigkeiten nach Hause zurück.
20. Februar 2023
Während sich unsere Nachbarn früh morgens zum Rosenmontagszug nach Köln aufgemacht hatten, gestalteten wir unseren Tag nur bedingt Karnevals-like. Ich musste ohnehin arbeiten, und ich stellte diesem nüchternen Abarbeiten von Zahlen auch keinen Widerstand entgegen. Meine Frau schaute am Fernseher den Rosenmontagszug, wozu ich mich nur sporadisch im Wohnzimmer sehen ließ. So verpasste ich so ungefähr vollständig den Rosenmontagszug, anstatt dessen dauerte die Rücksprache mit meinem Chef überproportional lang, und ein Ereignis überlagerte ein etwaiges ausgelassenes Feiern am Rosenmontag: unsere Tochter hatte einen Video-Call zu ihrer Bewerbung um einen Ausbildungsplatz an den GFO Klinken Bonn. Nervös waren wir alle nicht nur, was denn bei dem Video-Call heraus kommen würde, nervös waren wir im Vorfeld vor allem deswegen, ob denn die Technik klappen würde. Dazu hatte ich die Anwendung „Zoom“ auf meinem dienstlichen Laptop installiert, den unsere Tochter beim Video-Call verwenden wollte, weil ihr Rechner ohne Kamera war. Eine halbe Stunde vorher machte unser Sohn einen Test, bei dem das Meeting grundsätzlich funktionierte, aber als Teilnehmer wurde mein Name, aber nicht der Name unserer Tochter angezeigt. Um das zu ändern, richtete unser Sohn einen eigenen Account für unsere Tochter ein, so dass ihr Name als Teilnehmer angezeigt wurde. Nervös war meine Frau noch, weil das Zimmer unserer Tochter stets sehr unaufgeräumt aussah, doch diese Nervosität stellte sich als unbegründet heraus: die Kamera war genau auf die Wand gerichtet mit den sauber aufgereihten Manga-Büchern und der Pinnwand voller Zettel im Hintergrund.
21. Februar 2023
Die Rückseite des Hauptbahnhofs als der wesentlich ansehnlichere Ausblick. Die Gegensätze sind krass: auf der einen Seite des Bahnhofs stürzen sich Neubauten auf den Betrachter, die das frühere Bonner Loch abgelöst haben. Geschäftsbebauungen und Ladenlokale eröffnen die Fußgängerzone, auf der Rückseite vereinzeln sich Geschäfte wie eine Apotheke, ein Optiker oder Kioske. Sonst dominiert die Wohnbebauung, die zunehmend bürgerliche Fassaden haben, je mehr man sich vom Hauptbahnhof entfernt. Dieser verspielte Charakter der Fassaden, der hier noch nicht sichtbar ist, nimmt zu den Stadtteilen Poppelsdorf und Endenich zu, übergehend in einen Villencharakter hin zur Poppeldorfer Allee. So sind hier die Ströme der Fußgänger einiges ruhiger als in die Richtung der Fußgängerzone. Man verspürt keinerlei Hektik, ein Menschengedrängele ist ferner denn je. Der Autoverkehr fließt sporadisch vor sich hin, ab und an queren Busse die Kreuzung, Fahrradfahrer sind fast so selten wie der motorisierte Autoverkehr. Die Rückseite des Hauptbahnhofs entspannt. Fernab vom Geschäftsleben gleitet der Blick in eine Ruhe und Leere, die fast schon untypisch ist. Niemand rennt, niemand beeilt sich, niemand droht etwas zu verpassen. Gar nicht so weit weg vom Puls des Hauptbahnhofes.
22. Februar 2023
Notizen als Ausfluss des eigenen Denkens. Man mag Notizen als unwichtig abtun, als unsortiertes und unstrukturiertes Gekritzele, unvollständig und ohne jegliche Form. Am Arbeitsplatz sammeln sich die Notizen in einer Zettelwirtschaft, wo alles wissenswerte notiert wird. Stichworte, die nicht vergessen werden sollen. Begrifflichkeiten, die das wesentliche umreißen sollen. Passagen von Stichworten, die Zusammenhänge ergeben. Nützliches, worauf später zurückgegriffen werden könnte. Dinge, zu denen im Moment des Niederschreibens nicht ersichtlich ist, wie wichtig sie später werden könnten. Am Arbeitsplatz sichte ich dieses Sammelsurium einer Zettelwirtschaft ab und an, ich überfliege es, werfe unwichtiges weg, verwende das wichtige in irgendwelchen Analysen, sorge dafür, dass der Stapel der Zettelwirtschaft durch Wegwerfen eingedämmt wird. Im nachhinein fließen die Notizen in das eigene Denken ein, sie nehmen Struktur an. Nicht ganz so ist es mit dem eigenen Denken außerhalb des Arbeitsplatzes. Wir machen zwar einen Einkaufszettel, machen bisweilen einen Plan, was wir kochen wollen, tragen Termine in unseren Terminkalender ein. Aber als Notizen haben wir keine Grundlage, um unser eigenes Denken zu formen. Gerade der Arbeitsplatz zeigt die Bedeutung der Notizen. Wie stehen wir zu den Dingen ? Welche Meinungen, Haltungen, Einstellungen prägen uns ? Welche Wertevorstellungen haben wir ? Wie stehen wir im Verbund der Familie ? Welchen Platz haben wir im Universum ? Dies zu begreifen, dazu könnten Notizen wichtige Beiträge leisten, wenn wir eine Art von Kaffeesatzlesen betreiben würden, wenn wir Kleinigkeiten des Alltags notieren würden. Diese Notizen sammeln, zusammenschreiben, durch denken und Schlüsse daraus ziehen. Alles zu aufwändig, mag man denken. Der Arbeitsplätz hält uns dazu an, wichtiges mitzuschreiben. Sich selbst und seinen eigenen inneren Wesenskern zu begreifen, sollte nicht weniger wichtig sein.
23. Februar 2023
Seit längerer Zeit habe ich es heute noch einmal gewagt, meine Arbeitsinhalte an einem Außenstandort auszuüben. Ich spürte, wie sehr ich diese andersartigen Eindrücke brauchte. Was diese Eindrücke betraf, ersetzte die Bahnfahrt frühere Rennradtouren. Die Bahn war ausreichend langsam unterwegs, dass die Eindrücke nicht vorbei flogen. Die Wahrnehmungen blieben an den Objekten haften, sie konnten deren Einzigartigkeit durch dringen und sie verewigen. Wie lange war es her, dass ich das letzte Mal meinen Arbeitsort nach Rheinbach verlegt hatte ? Die Fahrt durch den Kottenforst zeigte die Lücken von Trockenheitsschäden, darüber hinaus glitt der Wald in seiner geschlossenen Gestalt vorbei. Winterkahl, krallten sich Äste und Zweige aneinander, und der Wald strahlte eine vollkommen harmonische Ruhe aus. Alles war perfekt, die Berührung geschah bei der Bahnfahrt im Abstand intensiver Blicke, der Wald hatte genau dieses mythische, märchenhafte, das man dem deutschen Wald gerne nachsagte. Das kahle Geäst löste die Undurchdringlichkeit auf, ein dichtes Zusammenstehen von Bäumen in der Stille eines Februartages. In Rheinbach arbeiten im Café, der Gang durch die Stadt mit ihren Akzenten von Fachwerk. So oft wie ich entweder mit dem Rennrad oder zur Verlagerung der Arbeitsinhalte in Rheinbach gewesen war, lebte die Vertrautheit der Stadt wieder auf. Die Kombination von historischer Bausubstanz mit einer Geschäftsstraße war optimal, es gab ausreichend Stellen zum Verweilen. Ecken ließen Nostalgie aufkommen, Gassen verwinkelten sich. Rheinbach, ein Städtchen, das einer intensiven Betrachtung lohnte. Meine Stimmung ließ ich treiben in diesem Perspektivenwechsel einer historischen Umgebung.
24. Februar 2023
Nichts großartiges am Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine, kein Demonstrationszug, nur ein kleiner Stand auf dem Münsterplatz. Kleinteilige Fotografien zeigen die Zerstörungen in der Ukraine. Die Polizei hockt sich zusammen auf der gegenüber liegenden Seite des Münsterplatzes. Kommt da noch etwas ? Eine größere Kundgebung ? Anderenorts marschieren etwa Menschen von Münster nach Osnabrück, und in Städten wie Köln oder Düsseldorf dürfte eine größere Menschenmasse für den Frieden demonstrieren. Ein Jahr Krieg in der Ukraine, was kommt nun ? Die Prognose, Russland könne die Ukraine in wenigen Wochen überrennen, wie die Deutschen es mit den Belgiern im Ersten Weltkrieg gemacht hatten, ebenso die Deutschen mit den Polen im Zweiten Weltkrieg, ist nicht eingetreten. Die Ukraine hat widerstanden, es ist aber die Konstellation eines Stellungskrieges eingetreten, wie wir sie im Ersten Weltkrieg hatten. Die Ukrainer reden von der „Hölle von Bachmut“, so wie man die „Hölle von Verdun“ in den Geschichtsbüchern nennt. Man redet von einem Abnutzungskrieg, bei dem die Ukrainer über die Dauer von mehreren Jahren die Verluste nicht mehr verkraften kann, während bei den Russen die Ressourcen an Soldaten bei einer vier- bis fünfmal größeren Bevölkerung dementsprechend größer sind. Eine zynische Betrachtung, dass sich die Menschen gegenseitig kaputt schießen, und es siegt diejenige Nation, dessen Ausgangswert an Menschenleben einiges höher ist. Und dann ist da noch die Position von China, die heftig diskutiert wird. An die Friedensinitiative, die China ergreift, will nicht wirklich jemand glauben. China spielt seine Position aus, sich neutral stellen zu wollen. Dem Westen steht China feindselig gegenüber, und den Angriffskrieg Russland befürwortet China nicht, es lehnt ihn aber auch nicht ab. Ebenso ist nicht absehbar, dass Russland von innen her instabil wird. Es gehört zu den Wunderwerken einer Diktatur, dass die Bevölkerung hinter dem Machthaber Putin steht und seiner Propaganda glaubt. Der „homo sowjeticus“, der sich unter Stalin heraus gebildet hat, lebt weiter. Dieser „homo sowjeticus“ verzichtet auf eine eigene Meinungsbildung, er passt sich an, weil alles von oben vorgegeben wird. Und er erträgt und leidet. Die Gedankenspiele, wie man Frieden schaffen kann, laufen allesamt ins Leere. Es wird sicherlich noch eine ganze Weile geschossen werden, ohne dass Russland nennenswerte Geländegewinne erzielen wird.
25. Februar 2023
Fahrt durch einen Ort, mit dem ich einige Erinnerungen an früher verband. Eine Zeitlang hatte ich regelmäßig Rennradtouren durch Blankenberg gemacht, ich hatte dort Pause gemacht und über die Hügelformationen des sich öffnenden Siegtals geschaut. Zweimal hatten wir an Nachtwächterführungen einer früheren Freundin teilgenommen. Blankenberg ist noch heute Ausflugsziel, es ist reich an Fachwerkhäusern und es ist eine historische Stadt mit den Ruinen einer massiven Burganlage. Mit einem Abstecher hatte ich gehofft, dort einen Kaffee in einem gemütlichen Café trinken zu können. Doch am Samstagmorgen wirkte das Städtchen wie ausgestorben. Das Burgcafé war bis auf weiteres geschlossen, vor einigen Jahren hatte der Inhaber seine Gaststätte „Haus Sonnenschein“ geschlossen, was durch die Lokalpresse gegangen war. Eine weitere Gaststätte am Dorfplatz sah verrammelt und geschlossen aus. Nur ein etwas nobleres Restaurant gegenüber dem Katharinenturm hatte seinen Restaurantbetrieb aufrecht erhalten. Dass dieser einstige Touristenmagnet wie ausgestorben war, lag nicht nur an der Tageszeit des Samstagmorgens. Die Kirche St. Katharina war ebenso geschlossen, hingegen sah es im gegenüberliegenden Weincafé so aus, als könne man zu den Öffnungszeiten dort einkehren. Der trübe Himmel, die sporadischen Regen zwischen all die Fachwerkhäuser schickte, passte zu der Leere mit dem spärlich durch den Ort herum kurvenden Autoverkehr. Was allerdings imposant war, als ich durch die Gerberstraße umher wandelte, das war die Burg. Als ich mich auf die Rückseite von Ferienwohnungen begab, konnte ich den freien Ausblick auf die Burganlage genießen. In ihrer ganzen Breitseite stellte sie sich entgegen, mit all ihrer Macht stützte sie sich auf den Berg, dessen Bergrücken sich vor das Städtchen schob, abgegrenzt durch Teile der Stadtmauer. Vieles war in sich geschlossen und historisch, total beschaulich mit all den Fachwerkhäusern, aber halt menschenleer. Aber Plätze, Orte und Stellen fehlten, um dort zu verweilen und bei dem regennassen Wetter draußen einfach nur irgendwo drinnen in einem warmen Plätzchen sitzen zu können.
26. Februar 2023
Es war einer derjenigen Tage, an denen ich gehofft hatte, Freiräume für kulturelle Unternehmungen zu haben, doch im Endeffekt wurde daraus nichts. Meine Frau war nämlich mit dem Schwager kegeln, diesmal auf einer anderen Kegelbahn, wo die Zeiten am Sonntagnachmittag früher gelegt worden waren. Ab 15 Uhr war meine Frau unterwegs, und so hatte ich gehofft, mit in Bonn etwas anschauen zu können – ich hatte an das Akademische Kunstmuseum gedacht. Doch dann kam meine Frau mit dem Gedanken dazwischen, ich könne Regale in der Garage des Hauses der Dreier-WG aufbauen. Weil es aussah, dass ich die Zeit sowieso komplett umplanen musste, konkretisierte ich zunächst das Geburtstagsgeschenk für meine Frau – sie hatte am kommenden Samstag Geburtstag. Ich hatte an Comedy und Theater gedacht, ich suchte etwas aus für den Tag an ihrem Geburtstag, ich fragte unsere Tochter und rief Freunde an. Sie befragte ich gleichzeitig nach den Karl-May-Festspielen im Sommer dieses Jahres. Nach der Organisation des Geburtstagsgeschenkes machte ich mich an den Aufbau der Regale. Die Teile waren aus Kunststoff, die Steckverbindungen waren einfach ohne Werkzeug montierbar. Wie so oft, wenn ich mit den Händen arbeitete, hatte ich es viel zu eilig, und im Endergebnis hätten die Regale einiges gerader stehen können. War die Ungeduld der Auswuchs dessen, dass ich auf das Akademische Kunstmuseum verzichten musste ? Ich selbst war unzufrieden, an einem Sonntagnachmittag hatte ich keine Lust, den Aufbau richtig und stimmig hin zu kriegen, und so würde ich nacharbeiten müssen. Und bei meiner Art, die Dinge vor mir her zu schieben, würde es noch eine Weile dauern, bis das Regal an seinen bestimmungsgemäßen Gebrauch übergeben würde. Als ich danach im Eiscafé einen Kaffee trank, zog ich dennoch ein positives Fazit des Tages. Die Kegeltermine würden nämlich regelmäßig einmal monatlich früher liegen als bisher, wodurch die Chance erhalten blieb, die Freiräume zu nutzen. Und dann stand das organisatorische Gerüst am Geburtstag meiner Frau. Auf diese Überraschung freute ich mich, und ich hoffte, sie würde bei meiner Frau ankommen.
27. Februar 2023
Die klirrende Kälte war an diesem Morgen hammerhart, und im Endeffekt war es ein Drahtseilakt, dass ich mit dem Rennrad ins Büro fuhr. Busse und Bahnen wurden nämlich bestreikt, und gleichzeitig hatten wir eine Tagung, die mittags begann. Minus vier Grad zeigte das Thermometer an, als ich Brötchen holte, und die Eisschranktemperatur war so gut wie nicht angestiegen, nachdem ich unsere Tochter zur Schule gebracht hatte. Eigentlich fuhr ich bei solchen äußeren Bedingungen nicht mit dem Fahrrad ins Büro, aber wegen der Tagung und wegen des Streiks konnte ich nicht anders. So wartete ich bis kurz nach neun Uhr, bis ich losfuhr. Bei diesen frostigen Temperaturen brachte die Fahrradfahrt ein lange nicht mehr gekanntes Erlebnis, ich nahm nämlich mein Canyon-Rennrad. Seit meinem Herzinfarkt hatte ich es einmal benutzt, das wir im vorletzten Sommer zu einer Tour nach Rheinbach. Sonst stand es in der Garage vor sich her, es war nicht nur unbenutzt, es war auch verstaubt und ich musste es erst einmal aufpumpen. Aber das Fahrerlebnis erinnerte mich sogleich an gute alte Rennradtouren. Wie auf Federn gebettet, glitt ich dahin. Sanft konnte ich die Landschaft erleben, und all die kennen gelernten Weiten an die Ahr, in die Eifel oder in das Siebengebirge kamen wieder hoch. Ich trieb Gedankenspiele, mich wieder in den Kottenforst zu wagen, den Rhein entlang bis nach Köln oder rund um den Flughafen, das war diejenige Tour, auf der mich der Herzinfarkt ereilt hatte. Die Weiterfahrt ins Büro war dann doch ernüchternd. Die frostige Luft war schneidend, das zugefrorene Gefühl im Gesicht, vor allem an Mund, Ohren, Nase und in den Augen, war höchst unangenehm. Handschuhe und Schal wärmten zwar, auch an den Füßen konnte ich es aushalten, aber die Gesichtspartien waren ein einziger Eisklotz. Auf dem Weg ins Büro machte ich einen Zwischenstopp und wärmte mich in einem Café bei einer Tasse Kaffee auf. Die Sonne stand bereits ziemlich hoch auf der Reststrecke ins Büro, und die Tagung konnte um die Mittagszeit beginnen.
28. Februar 2023
Der Sinn und der Nutzen einer solchen Tagung waren nicht von der Hand zu weisen. Corona hatte die persönlichen Kontakte vollends durcheinander gebracht, und bei einer Tagung ließ sich die Agenda, was wir uns für das jetzige Jahr 2023 vornehmen wollten, intensiv diskutieren. Ein paar Spielchen schoben wir ein, die den Ablauf auflockerten, und bei einer Abendveranstaltung mit einem Abendessen standen wir in unserer Zentrale zusammen. Die Teilnehmerzahl, die sich auf unsere Abteilung eingrenzte, war übersichtlich. Der Redebedarf mit den Kollegen hätte höher sein können, weil wir uns bereits zum Finance-Kick-Off vor ein paar Wochen begegnet waren. Das Vortragen der Inhalte und der gemeinsame Austausch waren aber wichtig. Beim Sammeln von Punkten zu dem Thema, was wir als Vision in zwei Jahren positiv über unsere Arbeit weiter erzählen würden, erntete ich bei einem Beitrag das Gelächter eines Kollegen, was mich verwunderte. Es ging um Reorganisationen, die ich positiv bewertete, weil sie frühzeitig und offen durch die Geschäftsleitung kommuniziert wurden. Vor länger zurück liegenden Zeiten wurde dies nämlich nicht so gehandhabt, so dass ein Gerede entstand, das jeglicher Grundlage entbehrte. Falsche Informationen kursierten, die Kollegen wurden nervös, man machte sich gegenseitig verrückt. Seit zehn Jahren und etwas länger gab es zwar häufig Reorganisationen, oftmals wurde nur die eigene Stellenbezeichnung umgehangen oder man musste schlichtweg die Verfahren abwarten, wer wo auf welcher Position welchen Job bekam. Man wurde rechtzeitig informiert, was letztlich Ruhe in das Tagesgeschäft hinein brachte. Der Kollege hatte mich zum einen belächelt, weil er den Sinn und Zweck all der Organisationsmaßnahmen anzweifelte. Und dann hatte er Fälle in den Außenstandorten kennen gelernt, dass Arbeitsplätze weggefallen waren, die betroffenen Kollegen waren dann in die Auffanggesellschaft gewandert. Das fand er nicht mehr so spaßig. Wir behakten uns nicht, wir nahmen die Dinge so, wie sie waren. Er widerlegte aber, dass dieser Punkt nicht zu unserer Vision gehörte, was wir in zwei Jahren positiv über unsere Arbeit weiter erzählen würden. Reorganisationen waren ein Grundrauschen, das wir als notwendiges Übel hinnehmen mussten. Im Anschluss tagten wir fleißig weiter, und auf der Tagung hatten wir jede Menge Punkte gesammelt, was wir uns in diesem Jahr vornehmen wollten.
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